Flinke Rechner machen den Verkehr flüssiger, so Andreas Müller und Jan Klemme von der Magdeburger Testfeldumgebung Galileo

Jan Klemme (links) und Andreas Müller, Geschäftsführer des Digitalen Anwendungszentrums der Universität Magdeburg. FOTOS: ANDREAS STEDTLER, MITNETZ-GAS

Zukunftsland Sachsen-Anhalt

Flinke Rechner machen den Verkehr flüssiger, so Andreas Müller und Jan Klemme von der Magdeburger Testfeldumgebung Galileo

Mobilität: Experten der Magdeburger Universität entwickeln ein Neuartiges Verkehrsleitsystem.

Feierabendverkehr auf dem Magdeburger Ring. Die Stadtautobahn ist voll wie fast jeden Tag. Doch es rollt. Plötzlich: Rote Bremslichter, Warnblinker. Stau. Das Radio meldet: Unfall, Sie benötigen 15 Minuten länger. Eine halbe Minute eher, und wir hätten die rettende Abfahrt genommen und den Stau umfahren. Könnten Autofahrer nicht schneller gewarnt werden?

Magdeburg erhält 2023 modernstes Verkehrsleitsystem Deutschlands

Genau so ein Warnsystem entwickeln Magdeburger Wissenschaftler derzeit. Es heißt „TF Urban MD“. Hinter dem kryptisch anmutenden Namen steckt Bahnbrechendes. „2023, wenn die Technik im gesamten Stadtgebiet installiert ist, wird Magdeburg die erste Stadt Deutschlands sein, die ein flächendeckendes, ultraschnelles Verkehrsleitsystem hat, das in Echtzeit arbeitet“, sagt Andreas Müller, Kopf des Entwicklerteams und Geschäftsführer des Digitalen Anwendungszentrums der Uni Magdeburg.

Das Institut sitzt im Wissenschaftshafen, in einem ehemaligen Speicher des Handelshafens, und entwickelt hochmoderne Verkehrstechnik. Etwa das erste 5G-Reallabor Sachsen-Anhalts in der Testfeldumgebung Galileo. Oder aktuell ein Elektrofahrzeug zum induktiven Laden, das selbstständig navigierend seinen Lade-Pad findet und keine Strippe mehr benötigt.

Ganz oben auf der Projektliste steht nun das Turbo-Verkehrsleitsystem. Müller und sein Team entwickeln die Software und lassen die Hardware in der Stadt gerade aufbauen. Drei Dinge werden dafür benötigt.

1,8 MILLIONEN EURO kostet ein Projekt der Magdeburger Uni und der Stadt, das den Verkehrsfluss optimieren soll.

Erstens: Eine Road-Site-Unit. Das ist eine handgroße Box, die vor Ampeln an den Lichtmasten installiert wird. Das Gerät arbeitet mit ultraschnellem W-LAN ITS-G5. Es heißt tatsächlich G5 und nicht 5G. Der Unterschied: 5G erfasst eine Mobilfunkzelle, G5 arbeitet fahrzeuggenau. „G5 ist genau so schnell wie 5G, arbeitet aber präziser und kommt mit weniger Energie und Technik aus“ erklärt Müller. Bislang sind 35 Boxen in der Stadt installiert. Bis zum Jahresende sollen es 60 sein. 

Verkehrsinformationen werden in Echtzeit erfasst 

Jedes Gerät erfasst einen Radius von vier bis sechs Kilometern. „Das reicht aus, um in der ganzen Stadt in Echtzeit Verkehrsinformationen auszutauschen.“ Jede noch so kleine Straße wird erfasst. Die Box haben die Forscher der Uni zusammen mit dem Magdeburger Unternehmen Thorsis entwickelt.

Zweitens: Autos benötigen einen Sender, der die Daten über Position und Tempo des Fahrzeugs übermittelt. Es handelt sich um die so genannte On-Board-Box mit V2XTechnologie. VW hat seine Neuwagen damit bereits seit einigen Jahren standardmäßig ausgerüstet. Golf 8 und die Elektroautos der ID-Reihe etwa haben die Technik an Bord.

Pro Tag gibt es in der Stadt im Schnitt 112.000 Fahrzeugbewegungen. Etwa zehn Prozent der täglich durch die Stadt rollenden Fahrzeuge sind mit der modernen Technik ausgerüstet. „Das reicht für uns bereits aus, anhand der aufgezeichneten Bewegungen zu errechnen, wo es rollt und wo es sich staut“, erklärt Müller.

Drittens: Der Rechner. Andreas Müller steht vor zwei Großbildschirmen. Diese zeigen das gesamte Straßennetz der Stadt. Wo es rot wird, stockt es gerade. Violette Punkte zeigen, wo ein Fahrzeugmit der passenden Sendetechnik in dieser Sekunde unterwegs ist. Erfasst wird nur das Fahrzeug als Datenpunkt – weder Kennzeichen noch andere individuelle Merkmale werden registriert, versichert Müller.

Doch wie bekommen Fahrer älterer Wagen Informationen über Staus blitzschnell übermittelt? Die Magdeburger Forscherwollen dazu die Entwicklung neuer Apps sowie die Erweiterung bestehender Navi-Systeme anschieben, die dann über „Smartrouting“ mit den Informationen des neuen Verkehrsleitsystems gefüttert werden. Warnungen und Umleitungsempfehlungen kämen direkt aufs Mobiltelefon, das in vielen Autos heute schon mit dem Bildschirm des Autoradios gekoppelt werden kann. Das neue System liefert auch Informationen von Auto zu Auto. 

Verkehrsleitsystem macht Ampeln intelligenter

Beispiel: Ein Wagen bremst, die Straße ist glatt, das ABS springt an. Blitzschnell geht eine Glatteiswarnung an andere Fahrer. Mehr noch: Die neue Technik kann nicht nur Staus, Nebel, überfüllte Parkplätze oder Geisterfahrer entdecken und melden, sondern auch Ampeln schlauer machen, als sie es heute sind. Zum Beispiel auf der Bundesstraße 1 – der großen Ost-West-Magistrale durch die Landeshauptstadt. Dort gibt es drei Spuren: zwei geradeaus, eine geht nach links. Vor allem im morgendlichen Berufsverkehr stockt es, obwohl die Ampeln auf den Geradeaus-Spuren auf Grün stehen. Die Linksabbieger- Ampel ist auf Rot gesprungen, obwohl das Verkehrsaufkommen extrem hoch ist. Die Folge: Linksabbieger stauen sich in die Geradeaus- Spuren hinein. 

An der Ampel wird es ganz nach Bedarf grün

Könnte die Linksabbieger-Ampel nicht ein paar Sekunden länger auf Grün verweilen? Das neue Leitsystem macht aus einer ziemlich tumben Ampel eine smarte Ampel. „Die erfasst dank der W-LAN-Box präzise das Verkehrsaufkommen und kann die Grünphase bedarfsgerecht einige Sekunden verlängern.“

Baulich lassen sich solche Probleme oft nicht mehr im Nachhinein lösen. „Auf der B1-Brücke über die Elbe zum Beispiel ist es nicht mehr machbar, nachträglich die Linksabbiegerspur zu verlängern“, erläutert Müller. „Daher müssen wir solche Konflikte digital lösen.“

Künftig will Müllers Team auch den Magdeburger Radverkehr einbinden. Ein Bausatz für Fahrräder ist bereits in der Projektplanung, er dürfte in ein bis zwei Jahren einsatzbereit sein. Das gesamte G5-Projekt kostet 1,8 Millionen Euro und wird aus einem Fördertopf der EU bezahlt. Nächstes Jahr kann die Verkehrsleitzentrale der Stadt Magdeburg Hardware und Software übernehmen und in den kommenden Jahren nutzen.


JENS SCHMIDT

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